die Frage: Welche Verantwortung tragen Fotojournalistinnen und Fotografen?

18.12.2019

„Als Fotograf bin ich selten nur Beobachter, egal ob ein Konzernchef oder ein äthiopischer Bauer vor meiner Linse steht. Jedes Mal, wenn ich einen Menschen ins Visier nehme, weiß ich, dass er sich meinem Blick ausliefert und deshalb erwarten darf, dass ich ihn nicht von oben herab wahrnehme, sondern ihm auf Augenhöhe begegne. Doch nicht nur Rücksicht, sondern auch Bescheidenheit ist angesagt, wenn es darum geht, Menschen in einer bestimmten Situation zu erfassen. Ein Foto zeigt ja nur einen Ausschnitt des Geschehens vor Ort, spiegelt zudem nur einen Sekundenbruchteil wider, wobei ich mir bewusst sein muss, dass die Realität kein Moment ist, sondern sich als Prozess abspielt. Der Ausschnitt, den ich wähle, ignoriert alles, was sich neben ihm abspielt, wodurch meine Perspektive zur subjektiven Botschaft wird. Schon technische Eingriffe wie Brennweite, Blende und Belichtungszeit trennen mein Aufgenommenes vom Wahrgenommen. Halbwegs zufrieden kann ich nur sein, wenn mein Bild beim Betrachter einen ähnlichen Eindruck von der Szene weckt wie bei mir.

Für mich wie für alle Fotojournalisten gehört der „gefundene Moment“ zu den Glücksmomenten unseres Metiers, der Augenblick, in dem alles zusammenkommt, was ein gutes Bild ausmacht: Spannung, Aktion, Atmosphäre. In Havanna hatte ich dieses Glück, als ich aus dem Auto heraus beobachtete, wie ein Mann auf der Mauer des Malecon, der berühmten Küstenstraße, joggte und dabei riesige Sprünge über die Pfeiler absolvierte. Ich preschte ein Stück voraus und erwischte den Moment, der ihn im Spagat über der Brandung zeigte. Wenn sich ein solcher Glücksmoment nicht von selbst einstellt, wächst die Versuchung, ihn zu inszenieren. Oft ist es Zeitnot, zuweilen auch Bequemlichkeit, die Inszenierungen zu erzwingen scheinen, oder Situationen, wo man unter Kontrolle des Auftraggebers steht – ungeliebte, dafür aber oft gut bezahlte Jobs. Unser Ehrenkodex verlangt, dass zumindest die Bildunterschrift darauf hinweist.

Ich gehöre zu den Fotografen, die sich für technische Finessen begeistern. Speziell digitale Fotografie bietet nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, Bilder zu bearbeiten, ihre Farbbrillanz zu erhöhen und generell der Wahrnehmung des Fotografen im Moment der Aufnahme anzugleichen. Sie erlaubt allerdings auch, Inhalte durch Klonen, Einfügen anderer Bilder und Verschieben der Bildelemente zu verfälschen. Hier eine Grenze des Erlaubten zu ziehen, um die Integrität des Bildes zu wahren, gehört zur unbedingten Pflicht meiner Profession. Schon der Dichter Bertolt Brecht schrieb es uns vor fast hundert Jahren ins Stammbuch: „Der Fotografenapparat kann ebenso lügen wie die Setzmaschine“.“

Rainer Kwiotek, Fotojournalist bei Zeitenspiegel Reportagen, Waiblingen