die Frage: Wie sieht eine Welt ohne Arbeit aus?

03.03.2021
Foto: Sandra Eckardt
Foto: Sandra Eckardt

Wir stellen jeden Monat einer Persönlichkeit einer Teilbranche der Kreativwirtschaft eine Frage zu aktuellen Entwicklungen in ihrer Branche. 

Herr Warner, wie sieht eine Welt ohne Arbeit aus?  

„Die schlechte Nachricht zuerst: Arbeit wird es immer geben. Aber was wir darunter verstehen und welche Qualität diese Arbeit hat, unterliegt einer historischen Spezifizität. Etymologisch gesehen, berichtet uns die Kulturwissenschaftlerin Annemarie Matzke, hat das Wort ‚Arbeit‘ verschiedene Wurzeln, denen aber allen eine Nähe zum Begriffsfeld‚ Mühe, Not, Qual, Schicksal oder Zwang‘ zu eigen ist. Es beschreibt zunächst eine Tätigkeit, die als notwendig zum Überleben angesehen wird. Man denke bspw. an eine Knechtschaft oder das Bestellen eines Ackers. Im 18. Jahrhundert erweitert sich der Begriff entscheidend, indem er nun auch die Herstellung materieller und später auch immaterieller Produkte miteinschließt.

In der deutschen Sprache vermischen sich im Begriff der Arbeit seitdem drei verschiedene Bedeutungen: eine Tätigkeit, ein Herstellungsvorgang und das geschaffene Werk selbst. Die Arbeit wird somit zu einer Form der Wertschöpfung und kann im Sinne einer Leistung bemessen werden. Um die gesellschaftsbildende Kraft der Arbeit zu verstehen, lohnt es sich, die Frage der Wertschöpfung nicht bloß in einem ökonomischen, sondern auch in einem sozialen Sinne nachzuvollziehen. Als im 19. Jahrhundert die Mechanisierung der Webstühle es erlaubte, ungelernte Jugendliche und Frauen als Weber*innen in Fabriken anzustellen, zerstörten alteingesessene Weber die halbautomatisierten Maschinen. Diese später Maschinenstürmer genannten Männer protestierten damit nicht nur gegen den Verlust ihrer Arbeit, sondern auch gegen den Verlust ihrer vergeschlechtlichten Privilegien. Sie fürchteten um den Verlust ihrer Männlichkeit. Technology doesn’t care. Aber die Vorstellung einer durch Automatisierung und KI gänzlich von der Arbeit befreiten Welt scheint ein Phantasma zu bleiben.

Amazon heuerte in Nordamerika letztes Jahr 100.000 Arbeiter*innen für ihre Warenhäuser und Lieferdienste an und hinter den von uns täglich gebrauchten Suchmaschinentreffern und Social-Media-Posts stehen nicht nur Algorithmen, sondern auch eine unsichtbare globale prekäre Klasse an Zeitarbeiter*innen, welche die Inhalte für uns aufbereiten. Gleichzeitig sind die Werkschließungen in der Region real und die Zukunft unserer Einkaufsstraßen ungewiss. Dennoch: Die Idee einer Welt ohne Arbeit taugt weder als Dystopie noch Utopie. Sie ist viel besser als Provokation geeignet, die uns erlaubt jenseits der ewigen Schleifen von Konsum und Arbeit nachzuspüren, in was für einer Welt wir eigentlich leben wollen.“

Julian Warner, Kulturanthropologe und künstlerischer Leiter des Festivals 2022 der Kulturregion Stuttgart